Von Kressman Taylor
Regie/Choreografie: Katja Büchtemann, Oliver Moumouris
Komposition: Wolfgang Schnitzer
Es spielen: Naemi Büchtemann, Oliver Moumouris, Stefan Hallmayer.
Premiere: 12. September 2012. Pausa, Bogenhalle
- Martin kehrt nach Deutschland zurück. Gemeinsam mit seinem jüdischen Freund Max hat er in den USA eine Kunstgalerie geführt, nun kümmert sich Max allein um das Geschäft. Die beiden teilen ein Geheimnis: Martin hatte eine leidenschaftliche Beziehung zu Max Schwester Griselle, die er „aus Rücksicht auf seine Famile“ beendet hat. Im Laufe weniger Monate ist Martin nicht mehr wiederzuerkennen: Er ist in die NSDAP eingetreten und macht Karriere. Bald verbittet er sich Briefe von seinem Freund – denn Post von jüdischen Freunden ist für seine Karriere schädlich. Max verzweifelt, kann diesen Wandel nicht verstehen, trotzdem wendet er sich nochmals an Martin und bittet ihn, sich für seine in Berlin lebende, tanzende und nun akut gefährdete Schwester einzusetzen. Doch Martin verweigert ihr seinen Schutz, mehr noch, er liefert sie förmlich der SA aus. Max rächt sich in Form von Briefen an Martin. . . Der von der US-amerikanischen Autorin Kathrine Kressmann Taylor verfasste Briefroman erschien 1938 und erregte in den USA großes Aufsehen. Die New York Times schrieb damals: Diese moderne Geschichte ist die stärkste Anklage gegen den Nationalsozialismus, die man sich in der Literatur vorstellen kann.
Peter Ertle in Tagblatt vom 14.09.2012:
Gut 100 Meter weg, am anderen Ende der Halle gleißt ein Scheinwerfer auf. Ganz langsam schreitet in seinem Lichtkegel eine Figur zur Bühne, im wörtlichen Sinn: Er-scheinung. Am Ende wird sie sich wieder auf den langen Weg zurück machen, nun ein lebloser Körper, auf einer Decke gezogen, eine Prozession für 1 Tänzerin.
Auf der Bühne: An einem Tisch werden Figuren verschoben, Spielzüge geprobt und verworfen. Aber die Würfel sind längst gefallen, rien ne va plus, die Kugel rollt, die Tänzerin bewegt sich auf einem Tisch, wir wissen, wo sie landen wird, und betrachten doch die verzweifelten Versuche, ihr eine andere Bahn zu ebnen. Tisch um Tisch wird herangetragen, angebaut, eine hektische Laufsteg Erweiterung, eine Fluchthilfe. Jetzt müsste sie nur noch die Laufrichtung ändern.
So beginnt der Tanz. Das Schauspiel, der Text, fällt dagegen erst einmal ab. Briefverkehr. Irgendwie steif, vor allem die Figur Martins tut sich schwer, wirklich Figur zu werden. Viel zu rasch geht das, was spannend wäre: Das allmähliche Hineinschliddern eines Menschen in die Faszination der NS-Ideologie. Ein, zwei Briefe braucht es nur – und alles ist klar, zu früh zu klar.
Zurück zum Tanz: Choreographin Katja Büchtemann findet immer wieder Bewegungen für die Verunsicherung, Erschöpfung der Figuren. Wiewohl die Probenzeit nur zwei Wochen betrug, ziehen Tanz und Schauspiel nicht nur wie zwei Planetenbahnen ihre Kreise, sie treffen sich auf kurze Pas de deux oder als Partner im parallelen Bodentanz: Oliver Moumouris dritte Ebene neben Schauspiel und Regie. Und allmählich legen auch die Sprech- und Schauspielpartien mit der Dramatik der Geschehnisse das Papierene ab.
Im Moment der größten Gefährdung Griselles steigert das Stück die Fallhöhe, in dem die sonst eher artistisch-ätherische Tänzerin als Figur, Mensch, Frau, ins lange rote Abendkleid gewandet, ein Liebeslied haucht. Dies und ein „Ja, ich bin eine Jüdin!“ bleibt alles, was sie an diesem Abend zu sagen hat. Ihre Sprache bleibt der Tanz. Naemi Büchtemann ist technisch perfekt, in der Ausstrahlung zwar nicht die wagemutige, feurige Griselle, die der Text beschreibt, dafür aber leidenschaftlich am Scheideweg des Schicksals ihrer Figur.
Wolfgang Schnitzer steuert suggestiv hochwirksame, minimalistische Alarmschnipsel fast unterhalb der Hörgrenze bei, aber auch heulende Sirenen oder schlagende Beats. Schläge. Prügel. Ein Gewaltexzess. Eine Mordsmusik. Auch als sich später der Spieß umdreht, gelingen der Inszenierung so starke wie offensichtliche Bilder: Am Nasenring eines Mikrophons wird Martin durch die Manege geführt.
Weiß wie die Unschuld, bleich wie der Tod, schön wie ein Engel, und wie alle Geister durch Wände schwebend, betritt Naemi am Ende die Bühne. Wenn Max sie ins Tuch gewickelt von der Bühne trägt, sieht sie aus wie der vom Kreuz abgenommene Leichnam Christi – eine vollendete Pietà.